Individuelle Förderung: "Die Entwicklung des einzelnen Spielers muss im Zentrum stehen"

07.03.2024 00:00

Individuelle Förderung: "Die Entwicklung des einzelnen Spielers muss im Zentrum stehen"

Wie richtet sich der Schweizerische Fussballverband (SFV) auf der Suche nach zukünftigen Nationalspielerinnen und -spielern aus? Wie werden potentielle Talente rekrutiert und gefördert? Welches sind die "Spielerinnen und Spieler von morgen"? Family inside im Gespräch mit Patrick Bruggmann, Direktor Fussballentwicklung beim SFV.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermassen für alle Geschlechter.

Family inside: Patrick Bruggmann, als Direktor Fussballentwicklung des SFV strebst Du mit der Idee der individuellen Förderung im Junioren-Spitzenfussball ein Umdenken an. Wie muss man das verstehen?

Patrick Bruggmann: "Mit der individuellen Förderung möchten wir im Junioren-Spitzenfussball den Fokus auf den einzelnen Spieler richten. Er und seine persönliche individuelle Entwicklung sollen dabei im Vordergrund stehen. Das bedeutet, dass wir von der bisherigen Mentalität, dem Bestreben mit einem Team möglichst viele Titel und Siege feiern zu können, wegkommen müssen. Im Zentrum stehen die einzelnen Spieler und ihre persönliche Entwicklung. Die Anzahl Titel wird damit eher zur Neben-, die Förderung der potentiellen Talente zur Hauptsache. Wir müssen unsere Talente noch zielgerichteter und konsequenter in ihrer Entwicklung unterstützen, damit wir uns auf Stufe der A-Nationalteams, in denen die kompetitive Leistung im Vordergrund steht, weiter professionalisieren und verbessern können. Unsere Leistungszentren und Partnerschaften bilden viele gute Spieler aus, die Anzahl an internationalen Top-Spielern ist im internationalen Vergleich aber zu klein."

In diesem Sinne ist also ein Umdenken bei den Trainern in den Klubs gefragt, bei denen ja verständlicherweise der Gewinn eines Meistertitels oder ein Sieg eigentlich an erster Stelle steht?

"Für den Nachwuchsbereich gilt das unbedingt. Und gewinnen wollen wir jedes Spiel – aber nicht um jeden Preis. Gerade im Junioren-Spitzenfussball steht der Teamerfolg noch zu häufig an erster Stelle. Wollen wir den nächsten Schritt machen, braucht es hier in den nächsten Jahren ein Umdenken bei Trainern und Klubverantwortlichen. Ich bin der Überzeugung, dass individuell besser ausgebildete Spieler auch zu besseren sportlichen Ergebnissen als Team führen werden, umgekehrt hingegen ist das nicht der Fall. Letztlich profitieren die Vereine, die Liga und der Verband davon. Unsere Analysen der letzten Jahre zeigen, dass wir zwar einiges richtig gemacht haben, dass aber nach wie vor viel Optimierungspotential vorhanden ist und geradezu auf seine Ausschöpfung wartet. Es liegt an uns dafür zu sorgen, jeden einzelnen Spieler seinen Möglichkeiten entsprechend gezielt individuell zu fördern und ihm vor allem auch die Zeit zu geben, sich optimal entwickeln zu können. Viele Spieler im Junioren-Spitzenfussball besitzen Potential und alle sind gefordert, dieses konsequent auszuschöpfen."

Individuelle Förderung bedeutet aber auch einen Mehraufwand für die Trainer. Fehlen da nicht die Ressourcen?

"Ich würde es nicht als Mehraufwand, sondern vielmehr als neue Ausrichtung definieren, die nicht unbedingt zusätzliche Ressourcen benötigt. Der einzelne Spieler rückt in der Ausbildung ins Zentrum, seine persönliche Entwicklung steht an erster Stelle. Die Prioritäten werden damit anders gewertet. Der Trainer muss bei der Trainingsgestaltung mehr darauf achten, dass sich jeder Spieler möglichst individuell entwickeln kann. Als Basis dafür braucht es eine Stärken-Schwächen-Analyse, die dann in eine herausfordernde Zielsetzung mündet und mit klar definierten Massnahmen abgerundet wird. Unsere Besuche in den Partnerschaften und Leistungszentren zeigen, dass wir hier zu wenig konsequent unterwegs sind. Das wollen und müssen wir zwingend ändern. Die Trainer sollen ihr Wissen weniger direktiv an die Spieler bringen, sondern die Spieler proaktiv ins Trainingsgeschehen einbinden. Einfach ausgedrückt: Die Spieler sollen nicht länger die Instrumente des Trainers sein, um erfolgreich zu sein. Vielmehr muss der Trainer das Instrument der Spieler sein, um sie gezielt als Spieler und als Mensch weiterzuentwickeln und sie so in die 1. Mannschaft zu bringen. In verschiedenen Klubs im Ausland haben wir beobachtet, wie viel der Einbezug von Spielern ausmacht, wenn es um ihre individuelle Entwicklung geht. Sie lernen Selbstverantwortung, leben Mitbestimmung und gewinnen an Selbstvertrauen. Das war sehr eindrücklich."

Bleiben Spieler dank verstärkter individueller Förderung länger im Junioren-Spitzenfussball und werden weniger schnell deselektioniert?

"Eine konsequentere individuelle Förderung hat unter anderem auch zum Ziel, dass dem einzelnen Spieler mehr Zeit gegeben wird, um sein Potential abrufen zu können. Nicht zuletzt geht es hier um Chancengleichheit. Als konkretes Beispiel hierfür möchte ich die Förderung von Spätentwicklern nennen. Mit der konkreten Umsetzungsmassnahme «Bio Banding» erhalten Spieler, welche in ihrer biologischen Entwicklung Verzug haben, die Möglichkeit, sich ihrem biologischen Entwicklungsstand entsprechend zu beweisen. Sie können sich mit Spielern messen, welche sich biologisch auf dem gleichen Entwicklungsstand befinden. Dies sorgt bei Selektionen – beispielsweise für Nationalteams – für Chancengleichheit, denn schliesslich ist die körperliche Entwicklung bis zur Pubertät sehr individuell und gilt nicht als Indiz für Potential und zukünftige Leistungsfähigkeit. Ein Beispiel dafür ist "Take Your Time" auf Stufe U-16-Nationalteam: Spätentwickler mit Potential erhalten die Chance, internationale Erfahrungen zu sammeln, spüren die Wertschätzung seitens des Verbandes und können sich optimal weiter entwickeln. Spätentwickler zeichnen sich häufig durch eine hohe Spielkompetenz, viel Instinkt und Kreativität aus – diese Spieler dürfen wir durch «falsche» Selektionen auf keinen Fall verlieren. Sie verfügen über besondere Fähigkeiten, weil sie sich nur so gegen körperlich überlegene Spieler durchsetzen können. Niemand würde ahnen, dass auch einige unserer heutigen Nationalspieler Spätentwickler sind, die zum Glück auf ihrem Weg bereits entsprechend gefördert wurden."

Wie gehst Du nun vor, um das Projekt Individuelle Förderung voranzutreiben?

"Wir müssen natürlich die Verantwortlichen der Klubs ins Boot holen, ihnen aufzeigen, dass sich individuelle Förderung auch ohne zusätzlichen personellen Ressourcen umsetzen lässt. Wir müssen den "Mind-Set" im Trainerbusiness ändern, neu aufsetzen und versuchen, die Vorteile der individuellen Förderung auch aufgrund der gemachten Erfahrungen, Daten und Analysen von ausländischen Klubs, die bereits seit längerem so arbeiten, aufzuzeigen. Es wartet also viel Arbeit in diesem Bereich."

SFV